Was sonst noch passierte.

Jack O'Lantern

Kürbisgesichter überall. Das war jetzt so üblich zu Halloween, seit das Fest von Irland nach Amerika auswandert und dann vor ein paar Jahren mit der amerikanischen Welle wieder zurückgeschwappt war.
Deshalb hatte sie auch einen Kürbis gekauft, ihn ausgehöhlt und ein Gesicht reingeschnitzt. Sie hatte sogar spaßeshalber gegoogelt und wusste, dass so ein „Kürbis mit Gesicht“ üblicherweise „Jack O`Lantern“ genannt wurde oder auf eine Sage von einem Jack O’Lantern zurückging oder irgendwas in der Richtung.
‚Auch gut. Dann heißt er eben Jack’, dachte sie bei sich.
Sie trug ihn ins Wohnzimmer, zündete das Teelicht in seinem Inneren an und betrachtete ihr Werk zufrieden.
Dann schaute sie aus dem Fenster. Draußen tobte ein heftiger Sturm, so als ob alle Geister der Unterwelt heraufgestiegen wären um eine Party zu feiern, zu der die Lebenden nicht eingeladen waren.
Sie schauderte und ging zurück in die Küche. Dort setzte sie Wasser auf und machte sich eine heiße Schokolade mit viel Sahne und einem guten Schuss Whisky. Sie nahm ihre Tasse mit ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und sah Jack beim Leuchten zu...

„Hallo, schön Frau“, sagte plötzlich das Kürbisgesicht.
„Oh, hallo!“, sagte sie ein wenig überrascht.
„So allein heute Abend?“, fragte der Kürbis.
„Ja...“, sagte sie zögerlich.
Da begann der Kürbiskopf aufzusteigen und unter ihm zeigten fleckiger Kragen, eine abgewetzte, braune Jacke, eine geflickte Hose und alte Lederstiefel. Der Körper schien einfach aus dem Boden herauszuwachsen und oben drauf thronte der Kürbiskopf mit gelbem Funkeln in den Augen.
Sie hatte indes nur fasziniert dabei zugeschaut.
„Oh, halt“ sagte die Gestalt, drehte sich suchend im Raum umher, hob einen alten Strohhut auf, der hinter ihr gelegen hatte und setzte ihn sich auf den Kopf.
„Ich bin Jack“ sagte er schließlich.
„Ich weiß“ sagte sie. „Ich bin Susan.“

JackOLantern800

„Sehr angenehm, Susan“ sagte Jack. „Ich bin gekommen um dich zu entführen. Wir brauchen deine Hilfe. Wärest du eventuell bereit freiwillig mitzukommen?“
„Wohin?“, fragte sie.
„In die Geisterwelt“, sagte er.
„Auf gar keinen Fall!“, antwortete Susan.
„Dachte ich mir“ sagte Jack und seufzte. Dann trat er auf sie zu, hob sie hoch und warf sie sich einfach über die Schulter.
„Lass das!“, rief sie empört. „Ich will nicht!“
„Tut mir leid“, sagte er.
„Lass mich sofort runter!“, rief sie und trommelte auf seinen Rücken ein. Es schien ihm allerdings nicht besonders viel auszumachen.
Er trug sie in Richtung ihres Schlafzimmers. Als sie aber die Tür passiert hatten waren sie, statt in einem Raum mit Bett und Kleiderschrank, auf einem schmalen, dunklen Waldpfad. Hohe Bäume ließen sich links und rechts erahnen und es roch nach Laub und Moder. Vor Staunen vergaß Susan kurzzeitig sogar auf Jacks Rücken zu hämmern.
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„Im Dusterwald“, sagte er.
„Ach so, na klar!“, Susans Stimme klang leicht hysterisch. „Ich will sofort nach hause!“
„Wir sind gleich da“, sagte er.
„Zu hause?“, fragte sie.
„Nein, auf dem Großen Feld der Ähre“, sagte er.
Der Wald wurde tatsächlich lichter und wich dann einem riesigen Acker, auf dem noch vereinzelt ein paar Heuballen lagen. Jack steuerte auf die Mitte des Feldes zu und setzte Susan dort ab.
„Da sind wir“, behauptete er.
Susan zupfte ihre Kleider zurecht und sah sich um.
Das Feld wurde an drei Seiten von den hohen Bäumen des Waldes umgeben, an der vierten Seiten schlossen sich eine Wiese und dahinter weitere kleinere Felder an. Sie alle waren abgeerntet und im fahlen Licht des Dreiviertelmondes sah ihre Umgebung insgesamt nicht besonders heimelig aus.
„Jack, was soll ich hier?“, fragte sie.
„Du sollst die Kornkönigin sein“, sagte Jack und drückte ihr einen Kranz aus geflochtenen Ähren in die Hand. „Hier deine Krone.“
„Ich soll was sein? Wieso? Weshalb?“, fragte sie, wieder mit diesem leicht hysterischen Klang in der Stimme.
„Die Kornkönigin“, sagte Jack. „Weißt du, wir haben da ein kleines Problem:
Die richtige Kornkönigin wurde unglücklicherweise vor ein paar Tagen von einem Mähdrescher überfahren.“
„Ist sie tot?“ fragte Susan erschrocken.
„Nein, ganz so schlimm ist es nicht,“ fuhr Jack fort, „schließlich ist sie unsterblich. Sie sieht allerdings ziemlich derangiert aus. Zur Zeit sitzt sie in der Unterwelt am großen Kessel, schmollt vor sich hin und weigert sich strikt, in diesem Zustand Hof zu halten.
Nun ist heute Nacht allerdings die heilige Nacht des Kornvolkes. Sie kommen um den Segen ihrer Kornkönigin zu empfangen, denn darauf haben sie sich das ganze Jahr gefreut. Wenn sie nun hier ankommen und feststellen, dass ihre Königin nicht da ist, gibt es eine Menge Ärger. Wütende Strohmänner sind kein schöner Anblick und wer weiß, was sie alles anstellen werden, von künftigen Missernten und Hungersnöten mal ganz abgesehen.
Deshalb hat die Dunkle Mutter in ihrer Weisheit beschlossen, dass jemand die Kornkönigin heute Nacht vertreten muss und mich losgeschickt um jemand Geeignetes zu finden.“
„Und wieso hast du ausgerechnet mich gefunden?“, fragte Susan.
„Warum nicht? Du hattest eh nichts Wichtiges vor“, sagte Jack.
„Ich hatte sehr wohl was Wichtiges vor!“, protestierte sie.
„Was denn?“, fragte er.
„Ich ...äh....also ich ... ähm.... wollte ein Buch lesen!“, brachte sie schließlich hervor.
Jack funkelte sie amüsiert an.
Sie seufzte.
„Okay, okay“, gab sie nach. „Da mir anscheinend nichts weiter übrig bleibt: Was muss ich denn nun als Kornkönigin genau tun?“
„Zunächst könnest du dir die Krone aufsetzen“, schlug er vor.
Sie tat es.
„Fein“, kommentierte er.
„Also, wenn nachher das Kornvolk versammelt ist, sprichst du einfach den Großen Segen der Kornkönigin. Dann jubeln alle und es gibt noch Musik und Tanz bis zum Morgengrauen.“
„Aha, und wie geht der Große Segen der Kornkönigin?“, fragte sie.
„Oh. Hm. Das weiß ich nicht genau“, sagte er ein wenig verlegen. „Ich dachte du wüsstest das...“
„Wieso ich?“, rief Susan „Woher soll ich das denn wissen?“
„Na, du bist die Kornkönigin“, sagte er
„Bin ich nicht!“, sagte sie
„Jetzt schon“, sagte er und deutete auf ihre Kornkrone.
Sie seufzte erneut. Es hatte offensichtlich keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.
„Jack, das kann nicht klappen. Nie und nimmer!“
„Doch, doch, nur Mut!“, antwortete er zuversichtlich.
Sie schwiegen. Susan beobachtete unbehaglich den dunklen Wald ringsum.
Ein kalter Wind berührte sie und ließ sie frösteln. Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben sich angemessen zu kleiden. So stand sie nun dort in leichten Hausschuhen, Jeans und einem viel zu dünnen Pullover.
„Wann werden sie kommen?“, fragte sie in die Stille.
„Bald“, sagte Jack.
„Du hör mal, mir ist kalt, ich bin müde, können wir nicht...“
Sie unterbrach sich denn plötzlich hörte sie aus dem Wald einen merkwürdigen Gesang. Zunächst noch ganz leise aber er wurde schnell lauter und sie begann die Worte zu verstehen:

„Pflügen, säen, wachsen, reifen
Und mit der Ernte schließt sich der Kreis.
Goldene Ähren sind Nahrung und Leben
Für die dunkelste Zeit.

Königin, o Königin
Wohl ist unsre Arbeit getan
Königin, o Königin
Gib nun deinen Segen dem Land

Pflügen, säen, wachsen, reifen
...“

„Da sind sie“, sagte Jack.
Susan nickte nur. Sie starre gebannt auf den Waldrand, von dem sich nun die Gestalten des Chores zu lösen begannen. Sie kamen gradewegs auf sie zu. Es mussten Hunderte sein.
Bald konnte Susan Einzelheiten erkennen. Ihre Körper waren aus Stroh.. Manche trugen Hosen oder Hemden oder Jacken oder alles zusammen. Manche hatten Stiefel oder alte Schuhe an, manche trugen Hüte aus Stroh oder Filz oder Leder oder sie trugen Stirnbänder oder Kopftücher. Manche hatten aufgemalte Gesichter, mache hatten solche aus Stoff, manche hatten nur Löcher an den entsprechenden Stellen und manche hatten sogar Karotten- oder Maiskolbennasen.
Unter dem Gesang dieses illustren Chores füllte sich nun nach und nach der Platz.
Susan wurde dabei immer mulmiger zumute.
„Jack, sie müssen doch erkennen, dass ich nicht ihre Königin bin“, sagte sie leise.
„Mach dir da keine Sorgen, Liebes“, sagte er, „ich meine, sie haben Köpfe aus Stroh!“
„Aber sie müssen doch sehen, dass ich ein Mensch bin!“, erwiderte sie zweifelnd.
„Das spielt doch keine Rolle. Wer die Krone auf dem Kopf hat, ist die Königin. So einfach ist das“, antwortete er.
Und tatsächlich: Der Chor verstummte und aus dem Halbkreis der Strohgesichter um sie herum starrten sie die unterschiedlichsten Arten von Augen erwartungsvoll an. Wobei sie die Erwartung eher spürte als dass sie die Gesichter zu deuten gewusst hätte.
Nun ist es im Allgemeinen so: Wenn ein paar hundert Wesen um einen herum stehen und erwarten, dass man die Kornkönigin sein soll, dann ist man die Kornkönigin. Denn genau so wie Menschen unterschiedlich Rollen ausleben können, so können Rollen sich auch verschiedene Menschen suchen. Genau das geschah an dieser Stelle mit Susan. Etwas durchflutete sie wie eine Welle und Energie und Muster verbanden sich in ihr zur Rolle-der-Kornkönigin. Sie hob die Arme und es wurde vollkommen still auf dem Feld.
Dann, ohne den Umweg über ihren Verstand gemacht zu haben, sprachen sich die Worte des Segens aus ihrem Mund:

„Gesegnet sei der Boden und gesegnet sei der Pflug
Gesegnet sei die Saat und gesegnet sei die Ernte
Gesegnet sei das Wachstum und gesegnet sei die Reife
Gesegnet sei die Sonne und gesegnet sei der Regen
Gesegnet seid ihr, die Wächter der Felder
Durch die sich die Arbeit der Mühe erst lohnt
Denn ihr schützt das Korn und ihr schützt die Ähren
Frieden sei mit euch und mit euch mein Segen!“

Mit den letzten Worten legte sich ein goldenes Leuchten über das Feld und berührte jeden der Strohmänner mit seinem sanften Licht. Es ging ein glückliches Raunen durch die Menge, dann brach Jubel aus und Hüte wurden in die Luft geworfen.
Susan erwachte wie aus einer Trance und sah sich einen Moment lang erstaunt um.
„Habe ich es richtig gemacht?“, fragte sie an Jack gewandt.
„Du warst einfach umwerfend!“, antwortete er.
Susan sah zu den immer noch jubelnden Strohmännern und lächelte glücklich.
Irgendwo fingen nun Geigen und Flöten an eine lustige Melodie zu spielen und die Strohmänner begannen zu tanzen. Einer trat vor und reichte Susan seine Strohhände. Sie griff einfach zu und war plötzlich mitten drin im Hüpfen und Springen und Drehen und Wirbeln.
Die Music spielte immer weiter und der Tanz wurde immer schneller, sie spürte weder Müdigkeit noch Erschöpfung, sie hatte das Gefühl, noch ewig so weitertanzen zu können.
Doch mit dem ersten Licht der Morgendämmerung endete die Musik. Es wurde wieder still auf dem Acker und die Strohleute machten sich auf den Weg zurück zu ihren Feldern.
Als auch die Letzten im Wald verschwunden waren, sah sich Susan nach Jack um.
Er stand in einiger Entfernung hinter ihr. Sie ging auf ihn zu. Plötzlich merkte sie mit jedem Schritt die Anstrengungen der vergangenen Nacht.
„Können wir jetzt nach hause gehen?“, fragte sie müde.
„Aber sicher doch“, sagte er und nahm ihre Hand.
Sie ließ sich führen und sie liefen ebenfalls über das Feld in den Wald. Susan erkannte den Pfad wieder, oder glaubte es zumindest, auf dem sie gekommen waren.
Nach ein paar hundert Metern stand mitten auf dem Weg eine Tür, ihre Schlafzimmertür, wie Susan bemerkte, sie war aber zu müde um sich noch darüber zu wundern.
Jack öffnete sie und sie traten in ihr Wohnzimmer.
„So, da wären wir wieder“, sagte Jack, der gleich an der Tür stehen geblieben war. „Vielen Dank für deinen Einsatz!“
„Schon gut, schon gut“, sagte Susan und winkte ab. „Sag mal, passiert das eigentlich öfter? Ich meine, dass ihr euch Menschen für eure Geistersachen da ... ähm ... borgt?“
„Hin und wieder, schon“, gab Jack zu.
„Oh, na dann...“ sagte sie.
Einen Moment lang standen beide da und sahen sich etwas verlegen an.
Dann sagte Jack: „Ich muss jetzt wieder los. Machs gut, Susan!“
„Machs gut, Jack“, antwortete sie.
Er drehte sich schwungvoll dahin um, wo er die Tür vermutete und knallte mit voller Wucht gegen den Türrahmen.
„Autsch, verdammter Mist!“, fluchte er und hielt sich den Kürbis. Dabei rutschte ihm der Strohhut vom Kopf und fiel zu Boden.
Susan versuchte nicht lauthals loszulachen, konnte aber ein Kichern nicht unterdrücken.
Jack dagegen peilte erneut die Türöffnung an und verschwand diesmal ohne weitere Unfälle in der Welt hinter ihrem Schlafzimmer.
Susan sah ihm immer noch grinsend nach. Dann fiel ihr Blick auf den Boden.
„Oh, Jack, dein Hut...“, rief sie ihm in die Dunkelheit hinterher...

...Sie wachte auf und sah sich um. Sie musste auf der Couch eingeschlafen sein. Die Kerze im Kürbis war ausgegangen und das erste Licht des Morgens lugte durch die Fenster herein. Sie gähnte und streckte sich ausgiebig.
Dann stand sie auf und ging in die Küche um Kaffee zu kochen. Dabei stellte sie fest, dass ihr irgendwie alles wehtat, fast so als hätte sie Muskelkater.
‚Die Couch ist zum Schlafen einfach zu unbequem’, dachte sie.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie in Richtung Schlafzimmer um sich frische Sachen zu holen. Dabei entdeckte sie einen alten Strohhut, der auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf und während sie ihn betrachtete, setzte sie ihren Weg ins Schlafzimmer fort.
’Merkwürdig!’, dache sie. Sie konnte sich nicht erklären, wie der Hut dahin gekommen sein sollte, noch konnte sie sich erinnern, jemals einen solchen Strohhut besessen zu haben.
Sie setzte ihn sich probeweise auf den Kopf und stellte fest, dass er ihr ein paar Nummern zu groß war. Sie sah in den Spiegel am Kleiderschrank. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, irgendwas war mit diesem Hut. Sie bekam den Gedanken aber nicht zu fassen, er flutschte durch ihre mentalen Finger und suchte sein Heil in den Tiefen des Vergessens. So schnell wollte Susan aber nicht aufgeben. Sie konzentrierte sich und schloss die Augen. Da war irgendwas, irgendwas Wichtiges, irgendwas mit ... hm ... Kürbisgesichtern...?

Notruf

Ich steige in den Fahrstuhl und drücke den Knopf für den dritten Stock denn da will ich hin. Meine Freundin Luise wohnt dort und ich will sie besuchen. Dazu kommt es aber erst mal nicht weil plötzlich das alte Telefon im Fahrstuhl klingelt. Nun gehöre ich ja nicht zu den Menschen, die immer ans Telefon gehen auch wenn es grade nicht passt. Aber da steht „Notruftelefon“ über dem Telefon und da muss man doch rangehen, nicht wahr? Es könnte ja sehr wichtig sein. Also gehe ich ran: „Hallo?“.
„Kommen Sie schnell! Es ist sehr wichtig!“ sagt eine männliche Stimme am anderen Ende. „Wohin denn?“ frage ich einigermaßen alarmiert.
„In den Keller“, sagt die Stimme, „Sie müssen den Knopf mit dem roten „K“ darauf drücken“.
Also lege ich auf und drücke den Knopf mit dem roten „K“. Der Fahrstuhl ruckelt ein wenig rum, irgendwo quietscht ein Seilzug oder sowas und dann geht es plötzlich abwärts. Ziemlich schnell, wie ich finde. Rumpelnd kommt der Fahrstuhl schließlich zum Stehen, die Türen gleiten auf und ich blicke zunächst in undurchdringliche Dunkelheit. Es riecht nach Feuchtigkeit. Ein kühler Luftzug weht herein. Das ist für einen Keller vielleicht nicht ungewöhnlich aber geheuer ist mir das nicht. Ich will wieder nach oben und drücke beherzt auf die „3“.
Es geschieht aber genau gar nichts, was ich seltsamerweise auch vermutet hatte.
Also betrete ich vorsichtig in den Kellergang. Wie sich herausstellt, ist er beinahe beleuchtet. In Abständen hängen Lampen an den Wänden und ab und zu brennt sogar eine davon, was den Rest des Ganges eher noch dunkler macht.
Und es ist still. Nur das Geräusch meiner eigenen Schritte wird beinahe ärgerlich von den Wänden zurückgeworfen als hätte es dort nichts zu suchen. Als hätte ich dort nichts zu suchen. Und langsam frage ich mich auch ob ich hier tatsächlich irgendwas zu suchen habe und wenn ja was? Aber die Stimme am Telefon hatte drängend geklungen. Es muss wohl wichtig sein. Also gehe ich weiter.
Ein leises Brummen mischt sich nun plötzlich in die Stille und aus einem Seitengang weiter vorn scheint Licht auf meinen Gang. Als ich um die Ecke biege stehe ich vor einer großen Flügeltür mit Milchglasscheiben. Darauf steht „Notaufnahme“. Aha! Es scheint so eine Art Krankenhaus zu sein. Na, jedenfalls bin ich hier richtig. Ich drücke auf den Türöffner und die Türen schwingen fast geräuschlos auf.
Dahinter erkenne ich tatsächlich die Notaufnahme eines Krankenhauses, nur dass es – bis auf das seltsame Brummen – hier erstaunlich ruhig ist. Ein paar Meter hinter der Tür steht ein Mann in weißem Kittel und betrachtet eingehend etwas, das er auf einer roten Kladde vor sich hält. Dann wird er auf mich aufmerksam. Er nickt mir zu und winkt mich zu sich. Es scheint mir, als hätte er mich erwartet.
Er ist mittelgroß, gut gebaut und hat kurzes, leicht gewelltes schwarzes Haar. Und dann die Augen - bernsteinfarbene Augen, die von irritierender Intensität sind, wie ich bemerke als er ihren Blick auf mich richtet. Auf einem Namensschild an der Brusttasche des Kittels steht:

Dr. Loki Heljason
(Notarzt)
„Guten Tag“, sage ich.
Er nickt nur.
„Kommen Sie“, sagt er dann und geht voraus den Flur entlag zu einem Zimmer. Er öffnet die Tür und lässt mich eintreten. Dann folgt er mir.
Auf dem Bett liege ich selbst und sehe ziemlich lädiert aus. Gar nicht gut.
„Ohweh!“ sage ich. „Was ist denn da passiert?“
„Ein Unfall, schlimme Sache“, sagt Dr. Heljason ernst. Dann erzählt er mir in groben Zügen die Geschichte, in der eine Katze, ein LKW, ein roter Regenschirm und 4 Flaschen Bier eine Rolle spielen.
„Ohweh!“ sage ich noch mal. Er nickt nur.
„Kann ich irgendwas tun?“ frage ich.
„Ja“, sagt er, „es ist eigentlich ganz einfach: Sie dürfen nur nicht heute nachmittag um 16:37 Uhr aus dem Bus der Linie 107 an der Haltestelle Schildhornstrasse aussteigen. Dann könne wir sie schon heute Abend entlassen und morgen früh sind sie wieder ganz bei sich.“
„Das klingt einfach“, sage ich.
„Ist es im Prinzip auch“, antwortet er, „nur dürfen sie leider nichts von hier mitnehmen...“
Ich schaue irritiert. Was sollte ich denn mitnehmen wollen?
„...auch keine Erinnerungen...“ fügt er hinzu.
„Oh!“, sage ich als mir die Tragweite klar wird.
Er nickt wieder.
„Könnten Sie mir nicht kurz vorher irgendwie einen klitzekleinen Hinweis geben?“ frage ich hoffnungsvoll.
„Leider nein“, sagt er, „ich darf sie außerhalb der Station nicht kontaktieren.“
‚Aber Sie haben mich doch vorhin auch im Fahrstuhl angerufen, es war Ihre Stimme, die hab ich ganz genau erkannt!’ will ich rufen, überlege es mir aber im letzten Moment anders, unterdrücke den Impuls und sage statt dessen nur „Oha!“.
„Genau!“ sagt er. Ein schnelles Lächeln sprintet über seine Lippen um sofort wieder hinter dem Ausdruck ernster Besorgtheit in Deckung zu gehen.
„Jetzt müssen Sie aber wieder gehen“, sagt er dann, „Sie brauchen Ruhe“. Dabei sieht er auf mein Ich im Bett hinab.
„Ja, klar, aber wie...“, will ich fragen.
„Hier raus, den Gang nach rechts runter, durch die kleine Tür in den Flur. Dort ist der Fahrstuhl.“ kommt er mir zuvor.
„Oh, danke“, sage ich, drehe mich langsam um und gehe zur Tür.
„Seien Sie spontan!“ ruft er mir noch nach.
Ich mache mich auf den Weg zum Fahrstuhl und drücke mir dabei selbst die Daumen, dass nachher alles gut läuft.
Ich drücke den Knopf um den Fahrstuhl zu rufen.

Da macht etwas wusch. Nichts weiter. Nur wusch. Kurz ist mir auch wenig schwindelig.

Dann ist er da.
Ich steige in den Fahrstuhl und drücke den Knopf für den dritten Stock denn da will ich hin. Meine Freundin Luise wohnt dort und ich will sie besuchen.
Als der Fahrstuhl sich nach oben in Bewegung setzt, betrachte ich das alte Notruftelefon dort an der Wand. Kurz habe ich so ein unbestimmte Gefühl, als es müsse jeden Moment klingeln.

Später an diesem Nachmittag bringt mich Luise noch zum Bus. Die Haltestelle ist nicht weit. Nach kurzem Warten kommt auch ein Bus, der 107er, meine Linie. Ich verabschiede mich von meiner Freundin und steige ein. Dabei schaue ich kurz auf die Uhr. 16:16 Uhr. Wenn der Bus gut durchkommt, bin ich in 20 min da. Ich suche mir einen Platz und mache es mir bequem.
Dann säuselt die Computerstimme irgendwann „Nächster Halt: Schildhornstrasse“. Meine Haltestelle. Ich drücke den „Halt“-Knopf. Der Bus nähert sich der Haltebucht als plötzlich mein Handy klingelt. Ich bin etwas erstaunt. Wer kann das sein? Ich krame das Handy aus meinem Rucksack und schaue drauf. „Notruf“ steht auf dem Display. Das klingt ernst. Ich gehe ran. „Hallo?“ sage ich. Aber es ist niemand dran. Ich lege wieder auf.
Der Bus hat die Haltestelle erreicht und die Tür geht auf. In dem Moment habe ich eine Idee: Ich könnte ja noch 2 Stationen weiterfahren und mir einen Film aus der Videothek oben am Marktplatz ausleihen. Diese Idee gefällt mir ganz ausgezeichnet. Also setze ich mich wieder hin, denn ich war schon halb aufgestanden um auszusteigen.

Als ich mit meinem Film aus der Videothek komme und noch einmal an den seltsamen Anruf denke, muss ich plötzlich laut lachen weil mir einfällt, dass ich doch gar kein Handy habe. Ich mag die Dinger nicht. Vorsichtshalber schaue ich noch mal im Rucksack nach. Nein, da ist kein Handy drin. Wusste ich’s doch! Kopfschüttelnd gehe ich weiter.
Zu Hause angekommen lege ich den Film ein und mache es mir mit einem Glas Holunderwein gemütlich.
Irgendwie habe ich das Gefühl, heute Geburtstag zu haben. Dabei ist der noch 3 Monate hin.
Erstaunlich.

Telefon

„Du hast geschummelt!“ sagt eine weibliche Stimme vorwurfsvoll.
„Hab’ ich nicht!“ sagt die männliche Stimme entrüstet.
„Hast du wohl.“, sagt sie resigniert und seufzt. Dann nimmt sie den Faden wieder auf...

Fliegenworte

„Kartoffelsalat!“ sagt jemand. Ich hatte bisher gemütlich auf meinem Sessel gesessen und über die weltpolitische Lage nachgedacht, nein, ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich eigentlich eher über was ganz und gar Unpolitisches nachgedacht hatte, aber auf jeden Fall passte das Wort „Kartoffelsalat“ nicht unmittelbar harmonisch in diesen Gedankengang. Deshalb bin ich alarmiert und schaue mich nach der Quelle des Wortes um. Zunächst kann ich nichts entdecken.
„Kartoffelsalat!“. Diesmal von schräg recht oben, also vom Bücherregal. Ich schaue genau hin und siehe da! Da sitzt eine Fliege.
„Guten Tag“ sage ich probeweise.
„Kartoffelsalat“ antwortet sie.
Ich bemühe mich mit der Fliege eine Art Konversation zustande zu bringen, erhalte aber immer nur diese eine Antwort. Ich beginne darüber nachzudenken ob Kartoffelsalat vielleicht eine größere Bedeutung haben mag, beispielsweise als kulinarischer Vorschlag.
In dem Moment erklingt von rechts und neben dem Fernseher der Ruf: „Schuhcreme!“. Schlagartig verwerfe ich die Überlegungen kulinarischer Art und wende mich der Schuhcremefliege zu. Auch hier erweisen sich dialogische Ansätze als recht monoton. Derweil hat Kartoffelsalat meine Shakespearesammlung erklommen und thront nun auf Heinrich dem V.
Ich gebe meine Bemühungen vorerst auf und flüchte mich in mein Arbeitszimmer, wo ich eilig mein dickes Lexikon zu Rate ziehe. Ich schaue unter „Kartoffelsalat“ nach und finde ganz am Ende eine Hinweis: „Häufig verwendetes Wort von -> Einwortfliege s.d.“. Der gleiche Hinweis findet sich bei „Schuhcreme“.
Aha! Wir kommen der Sache also näher. Ich schlage unter „Einwortfliege“ nach und werde auch prompt informiert, dass die „gemeine Einwortfliege“ (wiss: Monolexoptera) in Europa recht verbreitet ist. Diese Fliegenart kann sich aufgrund der recht begrenzten Hirnareale, die für lexikalische Belange vorgesehen ist, nur jeweils ein einziges Wort merken. Dafür beherrscht sie allerdings 50.000 verschiedene Arten zu summen. Aha.
Ich kehre zurück ins Wohnzimmer und nicke Schuhcreme und Kartoffelsalat verständnisvoll zu.
Kaum habe ich mich wieder hingesetzt als vom Fenster ein leises Summen ertönt. Kurz darauf erklingt vom der Grünlilie ein triumphales „Fönwelle“.
„Hallo, Fönwelle“, sage ich, „ich weiß schon bescheid“.
„Fönwelle.“
„Ja, ist klar.“
Wieder summt es am Fenster. Eine vierte Einwortfliege passiert die Barriere zwischen Drinnen und Draußen und steuert zielstrebig auf den Zimmerbrunnen zu.
Ich denke: ‚Wenn sie jetzt „Knoblauchzehe“ sagt, springe ich auf, rufe laut: „Ich habs gewusst“ und verlasse auf der Stelle das Haus!’
Aber sie sagt „Kühlschrank“. Ich bin erleichtert.
Kühlschrank scheint indes eine intensive Zuneigung zu Kartoffelsalat erfasst zu haben. Sie nähert sich ihr zunächst mit dem Anflug auf das Bücherregal. Als Kartoffelsalat ruhig sitzen bleibt, erklimmt Kühlschrank zunächst Othello und nähert sich über Hamlet und Macbeth von links an Heinrich den V. und Kartoffelsalat an.
Dieses behutsame und überlegte Vorgehen schein belohnt zu werden. Die Beiden summen eine Weile vor sich hin und verschwinden dann gemeinsam in meinem Schlafzimmer.
Ich bin nicht sicher ob mir das recht ist...

Fliege

(Die Abbildung zeigt eine typische Einwortfliege in starker Vergrößerung)
logo

...

Was bisher geschah:

Gefolge


Frau Tag & Frau Tiefen
Thursnelda
Was sonst noch passierte.
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren