Jack O'Lantern
Kürbisgesichter überall. Das war jetzt so üblich zu Halloween, seit das Fest von Irland nach Amerika auswandert und dann vor ein paar Jahren mit der amerikanischen Welle wieder zurückgeschwappt war.
Deshalb hatte sie auch einen Kürbis gekauft, ihn ausgehöhlt und ein Gesicht reingeschnitzt. Sie hatte sogar spaßeshalber gegoogelt und wusste, dass so ein „Kürbis mit Gesicht“ üblicherweise „Jack O`Lantern“ genannt wurde oder auf eine Sage von einem Jack O’Lantern zurückging oder irgendwas in der Richtung.
‚Auch gut. Dann heißt er eben Jack’, dachte sie bei sich.
Sie trug ihn ins Wohnzimmer, zündete das Teelicht in seinem Inneren an und betrachtete ihr Werk zufrieden.
Dann schaute sie aus dem Fenster. Draußen tobte ein heftiger Sturm, so als ob alle Geister der Unterwelt heraufgestiegen wären um eine Party zu feiern, zu der die Lebenden nicht eingeladen waren.
Sie schauderte und ging zurück in die Küche. Dort setzte sie Wasser auf und machte sich eine heiße Schokolade mit viel Sahne und einem guten Schuss Whisky. Sie nahm ihre Tasse mit ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und sah Jack beim Leuchten zu...
„Hallo, schön Frau“, sagte plötzlich das Kürbisgesicht.
„Oh, hallo!“, sagte sie ein wenig überrascht.
„So allein heute Abend?“, fragte der Kürbis.
„Ja...“, sagte sie zögerlich.
Da begann der Kürbiskopf aufzusteigen und unter ihm zeigten fleckiger Kragen, eine abgewetzte, braune Jacke, eine geflickte Hose und alte Lederstiefel. Der Körper schien einfach aus dem Boden herauszuwachsen und oben drauf thronte der Kürbiskopf mit gelbem Funkeln in den Augen.
Sie hatte indes nur fasziniert dabei zugeschaut.
„Oh, halt“ sagte die Gestalt, drehte sich suchend im Raum umher, hob einen alten Strohhut auf, der hinter ihr gelegen hatte und setzte ihn sich auf den Kopf.
„Ich bin Jack“ sagte er schließlich.
„Ich weiß“ sagte sie. „Ich bin Susan.“
„Sehr angenehm, Susan“ sagte Jack. „Ich bin gekommen um dich zu entführen. Wir brauchen deine Hilfe. Wärest du eventuell bereit freiwillig mitzukommen?“
„Wohin?“, fragte sie.
„In die Geisterwelt“, sagte er.
„Auf gar keinen Fall!“, antwortete Susan.
„Dachte ich mir“ sagte Jack und seufzte. Dann trat er auf sie zu, hob sie hoch und warf sie sich einfach über die Schulter.
„Lass das!“, rief sie empört. „Ich will nicht!“
„Tut mir leid“, sagte er.
„Lass mich sofort runter!“, rief sie und trommelte auf seinen Rücken ein. Es schien ihm allerdings nicht besonders viel auszumachen.
Er trug sie in Richtung ihres Schlafzimmers. Als sie aber die Tür passiert hatten waren sie, statt in einem Raum mit Bett und Kleiderschrank, auf einem schmalen, dunklen Waldpfad. Hohe Bäume ließen sich links und rechts erahnen und es roch nach Laub und Moder. Vor Staunen vergaß Susan kurzzeitig sogar auf Jacks Rücken zu hämmern.
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„Im Dusterwald“, sagte er.
„Ach so, na klar!“, Susans Stimme klang leicht hysterisch. „Ich will sofort nach hause!“
„Wir sind gleich da“, sagte er.
„Zu hause?“, fragte sie.
„Nein, auf dem Großen Feld der Ähre“, sagte er.
Der Wald wurde tatsächlich lichter und wich dann einem riesigen Acker, auf dem noch vereinzelt ein paar Heuballen lagen. Jack steuerte auf die Mitte des Feldes zu und setzte Susan dort ab.
„Da sind wir“, behauptete er.
Susan zupfte ihre Kleider zurecht und sah sich um.
Das Feld wurde an drei Seiten von den hohen Bäumen des Waldes umgeben, an der vierten Seiten schlossen sich eine Wiese und dahinter weitere kleinere Felder an. Sie alle waren abgeerntet und im fahlen Licht des Dreiviertelmondes sah ihre Umgebung insgesamt nicht besonders heimelig aus.
„Jack, was soll ich hier?“, fragte sie.
„Du sollst die Kornkönigin sein“, sagte Jack und drückte ihr einen Kranz aus geflochtenen Ähren in die Hand. „Hier deine Krone.“
„Ich soll was sein? Wieso? Weshalb?“, fragte sie, wieder mit diesem leicht hysterischen Klang in der Stimme.
„Die Kornkönigin“, sagte Jack. „Weißt du, wir haben da ein kleines Problem:
Die richtige Kornkönigin wurde unglücklicherweise vor ein paar Tagen von einem Mähdrescher überfahren.“
„Ist sie tot?“ fragte Susan erschrocken.
„Nein, ganz so schlimm ist es nicht,“ fuhr Jack fort, „schließlich ist sie unsterblich. Sie sieht allerdings ziemlich derangiert aus. Zur Zeit sitzt sie in der Unterwelt am großen Kessel, schmollt vor sich hin und weigert sich strikt, in diesem Zustand Hof zu halten.
Nun ist heute Nacht allerdings die heilige Nacht des Kornvolkes. Sie kommen um den Segen ihrer Kornkönigin zu empfangen, denn darauf haben sie sich das ganze Jahr gefreut. Wenn sie nun hier ankommen und feststellen, dass ihre Königin nicht da ist, gibt es eine Menge Ärger. Wütende Strohmänner sind kein schöner Anblick und wer weiß, was sie alles anstellen werden, von künftigen Missernten und Hungersnöten mal ganz abgesehen.
Deshalb hat die Dunkle Mutter in ihrer Weisheit beschlossen, dass jemand die Kornkönigin heute Nacht vertreten muss und mich losgeschickt um jemand Geeignetes zu finden.“
„Und wieso hast du ausgerechnet mich gefunden?“, fragte Susan.
„Warum nicht? Du hattest eh nichts Wichtiges vor“, sagte Jack.
„Ich hatte sehr wohl was Wichtiges vor!“, protestierte sie.
„Was denn?“, fragte er.
„Ich ...äh....also ich ... ähm.... wollte ein Buch lesen!“, brachte sie schließlich hervor.
Jack funkelte sie amüsiert an.
Sie seufzte.
„Okay, okay“, gab sie nach. „Da mir anscheinend nichts weiter übrig bleibt: Was muss ich denn nun als Kornkönigin genau tun?“
„Zunächst könnest du dir die Krone aufsetzen“, schlug er vor.
Sie tat es.
„Fein“, kommentierte er.
„Also, wenn nachher das Kornvolk versammelt ist, sprichst du einfach den Großen Segen der Kornkönigin. Dann jubeln alle und es gibt noch Musik und Tanz bis zum Morgengrauen.“
„Aha, und wie geht der Große Segen der Kornkönigin?“, fragte sie.
„Oh. Hm. Das weiß ich nicht genau“, sagte er ein wenig verlegen. „Ich dachte du wüsstest das...“
„Wieso ich?“, rief Susan „Woher soll ich das denn wissen?“
„Na, du bist die Kornkönigin“, sagte er
„Bin ich nicht!“, sagte sie
„Jetzt schon“, sagte er und deutete auf ihre Kornkrone.
Sie seufzte erneut. Es hatte offensichtlich keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.
„Jack, das kann nicht klappen. Nie und nimmer!“
„Doch, doch, nur Mut!“, antwortete er zuversichtlich.
Sie schwiegen. Susan beobachtete unbehaglich den dunklen Wald ringsum.
Ein kalter Wind berührte sie und ließ sie frösteln. Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben sich angemessen zu kleiden. So stand sie nun dort in leichten Hausschuhen, Jeans und einem viel zu dünnen Pullover.
„Wann werden sie kommen?“, fragte sie in die Stille.
„Bald“, sagte Jack.
„Du hör mal, mir ist kalt, ich bin müde, können wir nicht...“
Sie unterbrach sich denn plötzlich hörte sie aus dem Wald einen merkwürdigen Gesang. Zunächst noch ganz leise aber er wurde schnell lauter und sie begann die Worte zu verstehen:
„Pflügen, säen, wachsen, reifen
Und mit der Ernte schließt sich der Kreis.
Goldene Ähren sind Nahrung und Leben
Für die dunkelste Zeit.
Königin, o Königin
Wohl ist unsre Arbeit getan
Königin, o Königin
Gib nun deinen Segen dem Land
Pflügen, säen, wachsen, reifen
...“
„Da sind sie“, sagte Jack.
Susan nickte nur. Sie starre gebannt auf den Waldrand, von dem sich nun die Gestalten des Chores zu lösen begannen. Sie kamen gradewegs auf sie zu. Es mussten Hunderte sein.
Bald konnte Susan Einzelheiten erkennen. Ihre Körper waren aus Stroh.. Manche trugen Hosen oder Hemden oder Jacken oder alles zusammen. Manche hatten Stiefel oder alte Schuhe an, manche trugen Hüte aus Stroh oder Filz oder Leder oder sie trugen Stirnbänder oder Kopftücher. Manche hatten aufgemalte Gesichter, mache hatten solche aus Stoff, manche hatten nur Löcher an den entsprechenden Stellen und manche hatten sogar Karotten- oder Maiskolbennasen.
Unter dem Gesang dieses illustren Chores füllte sich nun nach und nach der Platz.
Susan wurde dabei immer mulmiger zumute.
„Jack, sie müssen doch erkennen, dass ich nicht ihre Königin bin“, sagte sie leise.
„Mach dir da keine Sorgen, Liebes“, sagte er, „ich meine, sie haben Köpfe aus Stroh!“
„Aber sie müssen doch sehen, dass ich ein Mensch bin!“, erwiderte sie zweifelnd.
„Das spielt doch keine Rolle. Wer die Krone auf dem Kopf hat, ist die Königin. So einfach ist das“, antwortete er.
Und tatsächlich: Der Chor verstummte und aus dem Halbkreis der Strohgesichter um sie herum starrten sie die unterschiedlichsten Arten von Augen erwartungsvoll an. Wobei sie die Erwartung eher spürte als dass sie die Gesichter zu deuten gewusst hätte.
Nun ist es im Allgemeinen so: Wenn ein paar hundert Wesen um einen herum stehen und erwarten, dass man die Kornkönigin sein soll, dann ist man die Kornkönigin. Denn genau so wie Menschen unterschiedlich Rollen ausleben können, so können Rollen sich auch verschiedene Menschen suchen. Genau das geschah an dieser Stelle mit Susan. Etwas durchflutete sie wie eine Welle und Energie und Muster verbanden sich in ihr zur Rolle-der-Kornkönigin. Sie hob die Arme und es wurde vollkommen still auf dem Feld.
Dann, ohne den Umweg über ihren Verstand gemacht zu haben, sprachen sich die Worte des Segens aus ihrem Mund:
„Gesegnet sei der Boden und gesegnet sei der Pflug
Gesegnet sei die Saat und gesegnet sei die Ernte
Gesegnet sei das Wachstum und gesegnet sei die Reife
Gesegnet sei die Sonne und gesegnet sei der Regen
Gesegnet seid ihr, die Wächter der Felder
Durch die sich die Arbeit der Mühe erst lohnt
Denn ihr schützt das Korn und ihr schützt die Ähren
Frieden sei mit euch und mit euch mein Segen!“
Mit den letzten Worten legte sich ein goldenes Leuchten über das Feld und berührte jeden der Strohmänner mit seinem sanften Licht. Es ging ein glückliches Raunen durch die Menge, dann brach Jubel aus und Hüte wurden in die Luft geworfen.
Susan erwachte wie aus einer Trance und sah sich einen Moment lang erstaunt um.
„Habe ich es richtig gemacht?“, fragte sie an Jack gewandt.
„Du warst einfach umwerfend!“, antwortete er.
Susan sah zu den immer noch jubelnden Strohmännern und lächelte glücklich.
Irgendwo fingen nun Geigen und Flöten an eine lustige Melodie zu spielen und die Strohmänner begannen zu tanzen. Einer trat vor und reichte Susan seine Strohhände. Sie griff einfach zu und war plötzlich mitten drin im Hüpfen und Springen und Drehen und Wirbeln.
Die Music spielte immer weiter und der Tanz wurde immer schneller, sie spürte weder Müdigkeit noch Erschöpfung, sie hatte das Gefühl, noch ewig so weitertanzen zu können.
Doch mit dem ersten Licht der Morgendämmerung endete die Musik. Es wurde wieder still auf dem Acker und die Strohleute machten sich auf den Weg zurück zu ihren Feldern.
Als auch die Letzten im Wald verschwunden waren, sah sich Susan nach Jack um.
Er stand in einiger Entfernung hinter ihr. Sie ging auf ihn zu. Plötzlich merkte sie mit jedem Schritt die Anstrengungen der vergangenen Nacht.
„Können wir jetzt nach hause gehen?“, fragte sie müde.
„Aber sicher doch“, sagte er und nahm ihre Hand.
Sie ließ sich führen und sie liefen ebenfalls über das Feld in den Wald. Susan erkannte den Pfad wieder, oder glaubte es zumindest, auf dem sie gekommen waren.
Nach ein paar hundert Metern stand mitten auf dem Weg eine Tür, ihre Schlafzimmertür, wie Susan bemerkte, sie war aber zu müde um sich noch darüber zu wundern.
Jack öffnete sie und sie traten in ihr Wohnzimmer.
„So, da wären wir wieder“, sagte Jack, der gleich an der Tür stehen geblieben war. „Vielen Dank für deinen Einsatz!“
„Schon gut, schon gut“, sagte Susan und winkte ab. „Sag mal, passiert das eigentlich öfter? Ich meine, dass ihr euch Menschen für eure Geistersachen da ... ähm ... borgt?“
„Hin und wieder, schon“, gab Jack zu.
„Oh, na dann...“ sagte sie.
Einen Moment lang standen beide da und sahen sich etwas verlegen an.
Dann sagte Jack: „Ich muss jetzt wieder los. Machs gut, Susan!“
„Machs gut, Jack“, antwortete sie.
Er drehte sich schwungvoll dahin um, wo er die Tür vermutete und knallte mit voller Wucht gegen den Türrahmen.
„Autsch, verdammter Mist!“, fluchte er und hielt sich den Kürbis. Dabei rutschte ihm der Strohhut vom Kopf und fiel zu Boden.
Susan versuchte nicht lauthals loszulachen, konnte aber ein Kichern nicht unterdrücken.
Jack dagegen peilte erneut die Türöffnung an und verschwand diesmal ohne weitere Unfälle in der Welt hinter ihrem Schlafzimmer.
Susan sah ihm immer noch grinsend nach. Dann fiel ihr Blick auf den Boden.
„Oh, Jack, dein Hut...“, rief sie ihm in die Dunkelheit hinterher...
...Sie wachte auf und sah sich um. Sie musste auf der Couch eingeschlafen sein. Die Kerze im Kürbis war ausgegangen und das erste Licht des Morgens lugte durch die Fenster herein. Sie gähnte und streckte sich ausgiebig.
Dann stand sie auf und ging in die Küche um Kaffee zu kochen. Dabei stellte sie fest, dass ihr irgendwie alles wehtat, fast so als hätte sie Muskelkater.
‚Die Couch ist zum Schlafen einfach zu unbequem’, dachte sie.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie in Richtung Schlafzimmer um sich frische Sachen zu holen. Dabei entdeckte sie einen alten Strohhut, der auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf und während sie ihn betrachtete, setzte sie ihren Weg ins Schlafzimmer fort.
’Merkwürdig!’, dache sie. Sie konnte sich nicht erklären, wie der Hut dahin gekommen sein sollte, noch konnte sie sich erinnern, jemals einen solchen Strohhut besessen zu haben.
Sie setzte ihn sich probeweise auf den Kopf und stellte fest, dass er ihr ein paar Nummern zu groß war. Sie sah in den Spiegel am Kleiderschrank. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, irgendwas war mit diesem Hut. Sie bekam den Gedanken aber nicht zu fassen, er flutschte durch ihre mentalen Finger und suchte sein Heil in den Tiefen des Vergessens. So schnell wollte Susan aber nicht aufgeben. Sie konzentrierte sich und schloss die Augen. Da war irgendwas, irgendwas Wichtiges, irgendwas mit ... hm ... Kürbisgesichtern...?
Deshalb hatte sie auch einen Kürbis gekauft, ihn ausgehöhlt und ein Gesicht reingeschnitzt. Sie hatte sogar spaßeshalber gegoogelt und wusste, dass so ein „Kürbis mit Gesicht“ üblicherweise „Jack O`Lantern“ genannt wurde oder auf eine Sage von einem Jack O’Lantern zurückging oder irgendwas in der Richtung.
‚Auch gut. Dann heißt er eben Jack’, dachte sie bei sich.
Sie trug ihn ins Wohnzimmer, zündete das Teelicht in seinem Inneren an und betrachtete ihr Werk zufrieden.
Dann schaute sie aus dem Fenster. Draußen tobte ein heftiger Sturm, so als ob alle Geister der Unterwelt heraufgestiegen wären um eine Party zu feiern, zu der die Lebenden nicht eingeladen waren.
Sie schauderte und ging zurück in die Küche. Dort setzte sie Wasser auf und machte sich eine heiße Schokolade mit viel Sahne und einem guten Schuss Whisky. Sie nahm ihre Tasse mit ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und sah Jack beim Leuchten zu...
„Hallo, schön Frau“, sagte plötzlich das Kürbisgesicht.
„Oh, hallo!“, sagte sie ein wenig überrascht.
„So allein heute Abend?“, fragte der Kürbis.
„Ja...“, sagte sie zögerlich.
Da begann der Kürbiskopf aufzusteigen und unter ihm zeigten fleckiger Kragen, eine abgewetzte, braune Jacke, eine geflickte Hose und alte Lederstiefel. Der Körper schien einfach aus dem Boden herauszuwachsen und oben drauf thronte der Kürbiskopf mit gelbem Funkeln in den Augen.
Sie hatte indes nur fasziniert dabei zugeschaut.
„Oh, halt“ sagte die Gestalt, drehte sich suchend im Raum umher, hob einen alten Strohhut auf, der hinter ihr gelegen hatte und setzte ihn sich auf den Kopf.
„Ich bin Jack“ sagte er schließlich.
„Ich weiß“ sagte sie. „Ich bin Susan.“

„Wohin?“, fragte sie.
„In die Geisterwelt“, sagte er.
„Auf gar keinen Fall!“, antwortete Susan.
„Dachte ich mir“ sagte Jack und seufzte. Dann trat er auf sie zu, hob sie hoch und warf sie sich einfach über die Schulter.
„Lass das!“, rief sie empört. „Ich will nicht!“
„Tut mir leid“, sagte er.
„Lass mich sofort runter!“, rief sie und trommelte auf seinen Rücken ein. Es schien ihm allerdings nicht besonders viel auszumachen.
Er trug sie in Richtung ihres Schlafzimmers. Als sie aber die Tür passiert hatten waren sie, statt in einem Raum mit Bett und Kleiderschrank, auf einem schmalen, dunklen Waldpfad. Hohe Bäume ließen sich links und rechts erahnen und es roch nach Laub und Moder. Vor Staunen vergaß Susan kurzzeitig sogar auf Jacks Rücken zu hämmern.
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„Im Dusterwald“, sagte er.
„Ach so, na klar!“, Susans Stimme klang leicht hysterisch. „Ich will sofort nach hause!“
„Wir sind gleich da“, sagte er.
„Zu hause?“, fragte sie.
„Nein, auf dem Großen Feld der Ähre“, sagte er.
Der Wald wurde tatsächlich lichter und wich dann einem riesigen Acker, auf dem noch vereinzelt ein paar Heuballen lagen. Jack steuerte auf die Mitte des Feldes zu und setzte Susan dort ab.
„Da sind wir“, behauptete er.
Susan zupfte ihre Kleider zurecht und sah sich um.
Das Feld wurde an drei Seiten von den hohen Bäumen des Waldes umgeben, an der vierten Seiten schlossen sich eine Wiese und dahinter weitere kleinere Felder an. Sie alle waren abgeerntet und im fahlen Licht des Dreiviertelmondes sah ihre Umgebung insgesamt nicht besonders heimelig aus.
„Jack, was soll ich hier?“, fragte sie.
„Du sollst die Kornkönigin sein“, sagte Jack und drückte ihr einen Kranz aus geflochtenen Ähren in die Hand. „Hier deine Krone.“
„Ich soll was sein? Wieso? Weshalb?“, fragte sie, wieder mit diesem leicht hysterischen Klang in der Stimme.
„Die Kornkönigin“, sagte Jack. „Weißt du, wir haben da ein kleines Problem:
Die richtige Kornkönigin wurde unglücklicherweise vor ein paar Tagen von einem Mähdrescher überfahren.“
„Ist sie tot?“ fragte Susan erschrocken.
„Nein, ganz so schlimm ist es nicht,“ fuhr Jack fort, „schließlich ist sie unsterblich. Sie sieht allerdings ziemlich derangiert aus. Zur Zeit sitzt sie in der Unterwelt am großen Kessel, schmollt vor sich hin und weigert sich strikt, in diesem Zustand Hof zu halten.
Nun ist heute Nacht allerdings die heilige Nacht des Kornvolkes. Sie kommen um den Segen ihrer Kornkönigin zu empfangen, denn darauf haben sie sich das ganze Jahr gefreut. Wenn sie nun hier ankommen und feststellen, dass ihre Königin nicht da ist, gibt es eine Menge Ärger. Wütende Strohmänner sind kein schöner Anblick und wer weiß, was sie alles anstellen werden, von künftigen Missernten und Hungersnöten mal ganz abgesehen.
Deshalb hat die Dunkle Mutter in ihrer Weisheit beschlossen, dass jemand die Kornkönigin heute Nacht vertreten muss und mich losgeschickt um jemand Geeignetes zu finden.“
„Und wieso hast du ausgerechnet mich gefunden?“, fragte Susan.
„Warum nicht? Du hattest eh nichts Wichtiges vor“, sagte Jack.
„Ich hatte sehr wohl was Wichtiges vor!“, protestierte sie.
„Was denn?“, fragte er.
„Ich ...äh....also ich ... ähm.... wollte ein Buch lesen!“, brachte sie schließlich hervor.
Jack funkelte sie amüsiert an.
Sie seufzte.
„Okay, okay“, gab sie nach. „Da mir anscheinend nichts weiter übrig bleibt: Was muss ich denn nun als Kornkönigin genau tun?“
„Zunächst könnest du dir die Krone aufsetzen“, schlug er vor.
Sie tat es.
„Fein“, kommentierte er.
„Also, wenn nachher das Kornvolk versammelt ist, sprichst du einfach den Großen Segen der Kornkönigin. Dann jubeln alle und es gibt noch Musik und Tanz bis zum Morgengrauen.“
„Aha, und wie geht der Große Segen der Kornkönigin?“, fragte sie.
„Oh. Hm. Das weiß ich nicht genau“, sagte er ein wenig verlegen. „Ich dachte du wüsstest das...“
„Wieso ich?“, rief Susan „Woher soll ich das denn wissen?“
„Na, du bist die Kornkönigin“, sagte er
„Bin ich nicht!“, sagte sie
„Jetzt schon“, sagte er und deutete auf ihre Kornkrone.
Sie seufzte erneut. Es hatte offensichtlich keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.
„Jack, das kann nicht klappen. Nie und nimmer!“
„Doch, doch, nur Mut!“, antwortete er zuversichtlich.
Sie schwiegen. Susan beobachtete unbehaglich den dunklen Wald ringsum.
Ein kalter Wind berührte sie und ließ sie frösteln. Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben sich angemessen zu kleiden. So stand sie nun dort in leichten Hausschuhen, Jeans und einem viel zu dünnen Pullover.
„Wann werden sie kommen?“, fragte sie in die Stille.
„Bald“, sagte Jack.
„Du hör mal, mir ist kalt, ich bin müde, können wir nicht...“
Sie unterbrach sich denn plötzlich hörte sie aus dem Wald einen merkwürdigen Gesang. Zunächst noch ganz leise aber er wurde schnell lauter und sie begann die Worte zu verstehen:
Und mit der Ernte schließt sich der Kreis.
Goldene Ähren sind Nahrung und Leben
Für die dunkelste Zeit.
Königin, o Königin
Wohl ist unsre Arbeit getan
Königin, o Königin
Gib nun deinen Segen dem Land
Pflügen, säen, wachsen, reifen
...“
Susan nickte nur. Sie starre gebannt auf den Waldrand, von dem sich nun die Gestalten des Chores zu lösen begannen. Sie kamen gradewegs auf sie zu. Es mussten Hunderte sein.
Bald konnte Susan Einzelheiten erkennen. Ihre Körper waren aus Stroh.. Manche trugen Hosen oder Hemden oder Jacken oder alles zusammen. Manche hatten Stiefel oder alte Schuhe an, manche trugen Hüte aus Stroh oder Filz oder Leder oder sie trugen Stirnbänder oder Kopftücher. Manche hatten aufgemalte Gesichter, mache hatten solche aus Stoff, manche hatten nur Löcher an den entsprechenden Stellen und manche hatten sogar Karotten- oder Maiskolbennasen.
Unter dem Gesang dieses illustren Chores füllte sich nun nach und nach der Platz.
Susan wurde dabei immer mulmiger zumute.
„Jack, sie müssen doch erkennen, dass ich nicht ihre Königin bin“, sagte sie leise.
„Mach dir da keine Sorgen, Liebes“, sagte er, „ich meine, sie haben Köpfe aus Stroh!“
„Aber sie müssen doch sehen, dass ich ein Mensch bin!“, erwiderte sie zweifelnd.
„Das spielt doch keine Rolle. Wer die Krone auf dem Kopf hat, ist die Königin. So einfach ist das“, antwortete er.
Und tatsächlich: Der Chor verstummte und aus dem Halbkreis der Strohgesichter um sie herum starrten sie die unterschiedlichsten Arten von Augen erwartungsvoll an. Wobei sie die Erwartung eher spürte als dass sie die Gesichter zu deuten gewusst hätte.
Nun ist es im Allgemeinen so: Wenn ein paar hundert Wesen um einen herum stehen und erwarten, dass man die Kornkönigin sein soll, dann ist man die Kornkönigin. Denn genau so wie Menschen unterschiedlich Rollen ausleben können, so können Rollen sich auch verschiedene Menschen suchen. Genau das geschah an dieser Stelle mit Susan. Etwas durchflutete sie wie eine Welle und Energie und Muster verbanden sich in ihr zur Rolle-der-Kornkönigin. Sie hob die Arme und es wurde vollkommen still auf dem Feld.
Dann, ohne den Umweg über ihren Verstand gemacht zu haben, sprachen sich die Worte des Segens aus ihrem Mund:
Gesegnet sei die Saat und gesegnet sei die Ernte
Gesegnet sei das Wachstum und gesegnet sei die Reife
Gesegnet sei die Sonne und gesegnet sei der Regen
Gesegnet seid ihr, die Wächter der Felder
Durch die sich die Arbeit der Mühe erst lohnt
Denn ihr schützt das Korn und ihr schützt die Ähren
Frieden sei mit euch und mit euch mein Segen!“
Susan erwachte wie aus einer Trance und sah sich einen Moment lang erstaunt um.
„Habe ich es richtig gemacht?“, fragte sie an Jack gewandt.
„Du warst einfach umwerfend!“, antwortete er.
Susan sah zu den immer noch jubelnden Strohmännern und lächelte glücklich.
Irgendwo fingen nun Geigen und Flöten an eine lustige Melodie zu spielen und die Strohmänner begannen zu tanzen. Einer trat vor und reichte Susan seine Strohhände. Sie griff einfach zu und war plötzlich mitten drin im Hüpfen und Springen und Drehen und Wirbeln.
Die Music spielte immer weiter und der Tanz wurde immer schneller, sie spürte weder Müdigkeit noch Erschöpfung, sie hatte das Gefühl, noch ewig so weitertanzen zu können.
Doch mit dem ersten Licht der Morgendämmerung endete die Musik. Es wurde wieder still auf dem Acker und die Strohleute machten sich auf den Weg zurück zu ihren Feldern.
Als auch die Letzten im Wald verschwunden waren, sah sich Susan nach Jack um.
Er stand in einiger Entfernung hinter ihr. Sie ging auf ihn zu. Plötzlich merkte sie mit jedem Schritt die Anstrengungen der vergangenen Nacht.
„Können wir jetzt nach hause gehen?“, fragte sie müde.
„Aber sicher doch“, sagte er und nahm ihre Hand.
Sie ließ sich führen und sie liefen ebenfalls über das Feld in den Wald. Susan erkannte den Pfad wieder, oder glaubte es zumindest, auf dem sie gekommen waren.
Nach ein paar hundert Metern stand mitten auf dem Weg eine Tür, ihre Schlafzimmertür, wie Susan bemerkte, sie war aber zu müde um sich noch darüber zu wundern.
Jack öffnete sie und sie traten in ihr Wohnzimmer.
„So, da wären wir wieder“, sagte Jack, der gleich an der Tür stehen geblieben war. „Vielen Dank für deinen Einsatz!“
„Schon gut, schon gut“, sagte Susan und winkte ab. „Sag mal, passiert das eigentlich öfter? Ich meine, dass ihr euch Menschen für eure Geistersachen da ... ähm ... borgt?“
„Hin und wieder, schon“, gab Jack zu.
„Oh, na dann...“ sagte sie.
Einen Moment lang standen beide da und sahen sich etwas verlegen an.
Dann sagte Jack: „Ich muss jetzt wieder los. Machs gut, Susan!“
„Machs gut, Jack“, antwortete sie.
Er drehte sich schwungvoll dahin um, wo er die Tür vermutete und knallte mit voller Wucht gegen den Türrahmen.
„Autsch, verdammter Mist!“, fluchte er und hielt sich den Kürbis. Dabei rutschte ihm der Strohhut vom Kopf und fiel zu Boden.
Susan versuchte nicht lauthals loszulachen, konnte aber ein Kichern nicht unterdrücken.
Jack dagegen peilte erneut die Türöffnung an und verschwand diesmal ohne weitere Unfälle in der Welt hinter ihrem Schlafzimmer.
Susan sah ihm immer noch grinsend nach. Dann fiel ihr Blick auf den Boden.
„Oh, Jack, dein Hut...“, rief sie ihm in die Dunkelheit hinterher...
...Sie wachte auf und sah sich um. Sie musste auf der Couch eingeschlafen sein. Die Kerze im Kürbis war ausgegangen und das erste Licht des Morgens lugte durch die Fenster herein. Sie gähnte und streckte sich ausgiebig.
Dann stand sie auf und ging in die Küche um Kaffee zu kochen. Dabei stellte sie fest, dass ihr irgendwie alles wehtat, fast so als hätte sie Muskelkater.
‚Die Couch ist zum Schlafen einfach zu unbequem’, dachte sie.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie in Richtung Schlafzimmer um sich frische Sachen zu holen. Dabei entdeckte sie einen alten Strohhut, der auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf und während sie ihn betrachtete, setzte sie ihren Weg ins Schlafzimmer fort.
’Merkwürdig!’, dache sie. Sie konnte sich nicht erklären, wie der Hut dahin gekommen sein sollte, noch konnte sie sich erinnern, jemals einen solchen Strohhut besessen zu haben.
Sie setzte ihn sich probeweise auf den Kopf und stellte fest, dass er ihr ein paar Nummern zu groß war. Sie sah in den Spiegel am Kleiderschrank. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, irgendwas war mit diesem Hut. Sie bekam den Gedanken aber nicht zu fassen, er flutschte durch ihre mentalen Finger und suchte sein Heil in den Tiefen des Vergessens. So schnell wollte Susan aber nicht aufgeben. Sie konzentrierte sich und schloss die Augen. Da war irgendwas, irgendwas Wichtiges, irgendwas mit ... hm ... Kürbisgesichtern...?
Elli Crown - 1. Dez, 19:21